„Auch die Seele muss ankommen“

Auf der Flucht vor Krieg und Not landen täglich Tausende Menschen in Deutschland. Doch was bedeutet ankommen eigentlich? Reichen ein Aufenthaltstitel, ein Sprachkurs, Nahrung und ein Dach über den Kopf, um sich hier zu Hause zu fühlen? Gedanken und Geschich-ten über die Heimfindung in einem fremden Land.
Beitrag der Leipziger Volkszeitung vom 30.10.2015 (Beilage):

Reisen zu fernen Zielen können eine eigenartige Melancholie auslösen. Die Menschen sind froh, am Ziel zu sein, ihr inneres Gleichgewicht aber ist gestört. Dazu gibt es eine trostvolle Geschichte. Es ist die Geschichte von einem Indianer, der mit einem Bus gereist ist und mehrere Male darum bat, aussteigen zu dürfen. Dann setzte er sich an den Wegesrand und kletterte erst nach einer Weile wieder in den Bus. Beim zweiten oder dritten Mal fragte ihn der Busfahrer, was er denn tue. „Ich warte auf meine Seele“, gab er zur Antwort. „Sie ist nicht so schnell wie der Bus.“
Der Indianer lehrt uns, dass das Ankommen ebenso zu einer Reise gehört wie das Unterwegssein. In den Herbergen auf dem Jakobsweg liegen oft Ratgeber für Pilger aus. In einem Buch, gesehen kurz vor dem Ziel in Santiago de Compostela, heißt es, man solle sich für das Ankommen so lange Zeit lassen wie für das Reisen selbst.
Menschen, die vor vielen Jahren aus einer fernen Heimat zu uns gekommen sind, stellen wir gerne die Frage, wie lang es denn gedauert habe, bis sie „bei uns“ angekommen seien. Hinter diesen Menschen liegt aber nicht einfach eine Reise. Sie waren auf der Flucht vor einem Leben, das ihnen nicht mehr lebenswert schien. Wir fragen sie nicht, wie lange ihre Seele aus Afrika, aus Polen, vom Balkan oder aus dem Nahen Osten hierher gebraucht habe, die Frage nach der Seele klingt uns dann doch zu intim. Stattdessen wollen wir ganz praktische Dinge wissen: Wie lange hat es gedauert, bis ihr Arbeit gefunden habt, eine Wohnung? Wie habt ihr Freunde gefunden, wann seid ihr in den Sportverein gegangen, und wann habt ihr euer erstes Auto gekauft?
Dass wir die Leute ausfragen, ist nicht verwerflich. Es steckt ja auch keine unziemliche Neugier dahinter, eher Anteilnahme. Wir Einheimischen – wer es mag, möge den neuen Ausdruck „wir Biodeutschen“ verwenden – kennen diese Entwicklung vom Fremden bis zum Nachbarn und Mitbürger ja nicht aus eigenem Erleben. Wer hier geboren ist, für den ist das Hineinwachsen in die Gesellschaft genauso selbstverständlich wie das Hineinwachsen ins Leben. Für die Flüchtlinge aus Krisengebieten ist das Hineinfinden in die deutsche Gesellschaft kein bisschen selbstverständlich. Wenn wir Neubürger, die schon eine Weile hier sind, fragen, wie sie diese Zeit ihres Lebens in Erinnerung haben, dann steckt darin auch eine Chance. Vielleicht kann man es jenen, die nachkommen, ein wenig leichter machen?
Die Flüchtlinge, die in diesen Wochen und Monaten in unser Land kommen, gleichen eher dem Indianer auf der großen Reise. Die amtlichen Stellen fragen sie, in welcher Region unseres Landes sie künftig wohnen wollen, was sie können und was sie noch lernen wollen. Welche Fertigkeiten sie mitbringen, ob sie vielleicht einen Führerschein haben. Aber wir fragen sie nicht nach ihrer Seele. Ist die vielleicht zurückgeblieben in Syrien? Ist sie vielleicht untergegangen im Mittelmeer, auf der Strecke geblieben an der ungarischen Grenze? Ist sie gestorben auf dem Balkan? Wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass wir nicht bereit sind, den Flüchtlingen so viel Zeit zu lassen wie der Busfahrer in der Geschichte dem reisenden Indianer.
Die Flüchtlinge sollen sich schnell integrieren. Darüber besteht gesellschaftliches Einvernehmen, auch politisches. Die Politiker machen selbst Druck. Der innenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Volker Beck, zum Beispiel sieht die Bundeskanzlerin in der Pflicht. Angela Merkel habe bedauerlicherweise „relativ spät angefangen, den Menschen zu erklären, in welcher Situation wir sind“. Das mit der Integration sei halt nicht so einfach: „Das sind nämlich nicht alles nur Universitätsprofessoren, Ingenieure oder Ärzte, das sind auch viele Menschen, die keine Schulausbildung mitbringen. Das müssen sie auch nicht, wenn sie einen Anspruch auf Schutz haben.“ Es ist banal, was Beck sagt, aber es klingt so, als würden wir das alle übersehen.
Was wir womöglich übersehen, ist dabei etwas anderes. Die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin hat dieser Tage dringend geraten, auf Warnzeichen zu achten. Viele der Asyl- und Schutzsuchenden haben bei ihrer Flucht und Vertreibung Fürchterliches erlebt. Mindestens die Hälfte der Kriegs- und Folteropfer leide an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS, die sich meist in Depressionen und Angstzuständen äußert. Ob diese hohe Zahl so stimmt, ist im Augenblick nicht entscheidend. Und nicht immer sind die Traumata sofort offenkundig, bisweilen kehren die Erlebnisse erst nach Wochen, Monaten, ja sogar Jahren ins Bewusstsein zurück. Die Belastungen dieser Menschen aber werden früher oder später die Gesellschaft erreichen, die es lernen muss, damit umzugehen.
Man kann das auch so verstehen: Die medizinischen Fachleute weisen uns darauf hin, dass wir die Frage nach der Seele nicht vergessen sollten. Wenn wir es nicht tun, können die Spätfolgen verheerend sein.
Wenn die Bundeskanzlerin sagt „Wir schaffen das“, dann hat sie die Bewältigung der praktischen Fragen im Auge. Wir sollen rasch feste Unterkünfte für die Flüchtlinge bauen, Sprachkurse organisieren und Arbeitsplätze anbieten. Die Bürokraten sollen dabei mal nicht so preußisch vorgehen. Wir sollen nicht verzagen, wenn es einmal hakt, und immer daran denken, dass die Deutschen im Laufe ihrer Geschichte schon viele Integrationsleistungen vollbracht haben: die Flüchtlinge nach dem Krieg, ja und auch der erfolgreiche Prozess der Einheit. Das alles sei doch auch nicht leicht gewesen.
Nicht leicht, gewiss, aber auch nicht vergleichbar. Bei der deutschen Einheit machen wir uns keinen Druck, selbst nach 25 Jahren freuen wir uns über „riesige Fortschritte“, trösten uns über fortdauerndes Unverständnis mit der Entschuldigung hinweg, es brauche halt alles seine Zeit. Die Heimatvertriebenen der Vierzigerjahre haben zwar Schicksale erlebt wie die heutigen Flüchtlinge, Demütigungen, Vergewaltigungen, Tod und Elend. Im geschundenen Nachkriegsdeutschland, genauer: in der jungen Bundesrepublik, sind sie gewiss nicht freundlich aufgenommen worden, aber sie durften sich ihre seelischen Wärmestuben schaffen in Gestalt der Vertriebenenverbände. Die zeitweiligen Parallelgesellschaften hat niemand angeprangert, im Gegenteil, sie sind politisch hofiert worden. Immerhin, so ist man geneigt zu sagen, „stimmte“ die Religion. Es waren Christen, die da kamen – und doch sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, wie lange es gedauert hat, die sogenannten Mischehen vom Ruch der Sünde zu befreien. Wenn es beim stärksten Gefühl, zu dem der Mensch fähig ist, bei der Liebe, schon zwischen Protestanten und Katholiken über Hunderte von Jahren Probleme gab, wie lange geben wir uns Zeit, bis wir Verbindungen zwischen Muslimen und Andersgläubigen oder Ungläubigen für normal erachten? Hundert Jahre bestimmt nicht.
Große gesellschaftliche Umbrüche zwingen dazu, sich darüber Gedanken zu machen, was der Grundkonsens einer Gesellschaft ist. Offensichtlich ist genau dazu in Deutschland die Neigung nicht besonders stark. Bassam Tibi, der deutsche Politikwissenschaftler syrischer Herkunft, hat vor mehr als einem Jahrzehnt eine Debatte über eine „deutsche Leitkultur“ angestoßen und ist dafür schwer gescholten worden. Die Rechten im Lande haben ihn bewusst missverstanden im Sinne von Deutschtümelei, die Linke hat ihn mit Begriffen wie „Sauerbratenkultur“ veralbert. Dieser Tage hat er erneut die Frage gestellt, in welche Kultur wir die Millionen Flüchtlinge „hinein“-integrieren wollen. Die gängige Antwort: in die Rechtskultur unseres Grundgesetzes. Das ist gut und richtig – aber wieder wird die Seele vergessen.
Und noch eine Aufgabe stellt die Ankunft der Flüchtlinge den „Biodeutschen“. Es scheint so, als müssten wir Einheimischen neu darüber nachdenken, was und vor allem wer „einheimisch“, wer deutsch ist. Der ehemalige deutsche Fußballnationalspieler Gerald Asamoah (Hannover 96, Schalke 04), ein gebürtiger Ghanaer, hat dazu kürzlich eine bezeichnende Geschichte erzählt. Seine Tochter, in Deutschland geboren, habe sich immer hier heimisch gefühlt, eher selten sei sie auf ihre Hautfarbe angesprochen worden. Das Kind hat, so dürfen wir vermuten, sich nie darüber Gedanken machen müssen, wie lange es gebraucht hat, um „hier“ anzukommen. Seit Kurzem aber werde sie, noch bevor man sie auf Deutsch hat plaudern hören, gefragt, ob sie ein Flüchtlingskind sei. Was wir daraus lernen, ist naheliegend: die Vorstellung, was deutsch ist, ist bei Vielen noch sehr stark von der alten, überwiegend monokulturellen Gesellschaft der Nachkriegsjahre geprägt. Erst wenn wir verinnerlicht haben, dass auch ein Mädchen mit dunkler Hautfarbe seit seiner Geburt hier „angekommen“ ist, können wir auf unsere offene Gesellschaft stolz sein.

Reinhard Urschel


Geschichten vom Ankommen:
Die Reihe „Neues Zuhause – Geschichten vom Ankommen“ mit Radiointerviews und Hintergrundinformationen unter: www.deutschlandradiokultur.de/neues-zuhause


Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 30.10.2015 (Beilage)