„Uns allen täte eine Pause sehr gut“


Leipzig steht vor gewaltigen Herausforderungen durch die Flüchtlingskrise. Wie können Tausende Menschen untergebracht werden? Wie lassen sich diejenigen, die bleiben, integrieren? Welche Lasten muss die Stadt schultern? Dazu äußert sich OBM Burkhard Jung (57, SPD) im LVZ-Interview.


Bekommen wir es hin, dass im Winter kein Flüchtling friert?

Das müssen wir. Zur Wahrheit gehört, dass es zunehmend schwieriger wird. Es fehlen derzeit 1600 Plätze, die wir bis Ende Dezember brauchen. Das ist noch eine gewaltige Herausforderung. Ich stehe ungebrochen zum Recht auf Asyl. Wir haben eine große humanitäre Aufgabe und es bisher gut hinbekommen, weil wir noch mehr Raum haben als manche anderen Städte. Unser Problem aktuell ist eher das der Bestellung, der Betreibung und Errichtung. Uns allen täte eine Pause sehr gut – in ganz Deutschland.

Könnten Transitzonen an den Grenzen eine solche Pause verschaffen?

…wie immer wir das Kind nennen – Einreiseräume – ja! Ich meine, dass CDU und SPD gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Wir brauchen ein geregeltes Verfahren der Asyl-Einreise, das menschenwürdig ist und nicht unser Recht auf Asyl aushebelt. Aber wir müssen in der Tat geregelter verteilen.

Für das nächste Jahr rechnen Sie mit einem weiteren Zuwachs an Flüchtlingen: 6.750 werden prognostiziert, das sind nochmal 1.200 mehr als in diesem Jahr. Schafft Leipzig das noch?

Unser Problem ist nicht die Zahl der Menschen. Das Problem ist die Taktzahl. Diese Stadt hat Kraft, Substanz, Raum und auch Arbeit, um 10 .000 oder 12. 000 Menschen zusätzlich aufzunehmen. In der jüngsten Vergangenheit sind jedes Jahr Menschen in dieser Größenordnung dazugekommen. Das war aber ein natürlicher, organischer Vorgang. Wenn das sehr ungeregelt, sehr ungesteuert und sehr plötzlich kommt, wird es schwierig. Die Geschwindigkeit momentan ist zu hoch. Wenn uns neben den Einrichtungen des Freistaats, die in Leipzig ja auch verkraftet werden müssen, demnächst jede Woche bis zu 600 Menschen zugewiesen werden, dann ist das eine enorme Kraftanstrengung. Das bedeutet dann auch für die Stadt: Es kommen große Einrichtungen, Containerlösungen und auch beheizbare, winterfeste ­Zelte. Das ist nicht der Integrationsweg, den ich mir unter normalen Bedin­gungen vorstelle. Wir wollen nicht ab­lassen von unserem Grundansatz: Gemeinschaftsunterkunft, kleine Gemeinschaftsunterkunft, dezentrale Unterbringung.

Städtische Turnhallen zur Unterbringung…

…sind allerletztes Mittel.

Wie groß werden die weiteren Standorte? Was sind die Herausforderungen bei der Planung?

Wir diskutieren gerade verschiedene Standorte in 400-er Einheiten. Wir brauchen dafür aber Vorlauf. Die neue Einrichtung am Prager Dreieck ist vor 2017 nicht zu schaffen. Containerlösungen brauchen ein halbes Jahr wegen der großen Nachfrage und entsprechenden Lieferzeiten. Ein simples Problem: Es gibt kaum noch Betten! Ich gehe davon aus, dass nächstes Jahr der Zustrom bei uns anhält. Selbst wenn nicht mehr so viele Menschen nach Deutschland kommen sollten, kommen die Menschen ja aus den Erstaufnahmen weiter in die Kommunen. Wir werden also im Januar, Februar, März, April die gleiche Situation haben wie im Dezember. Auf dem Wohnungsmarkt lassen sich Konkurrenzsituationen irgendwann nicht mehr vermeiden. Die Anzahl neuer Wohnungen wird bald nicht mehr ausreichen. Wir brauchen hier ein soziales Wohnungsbauprogramm des Bundes und des Freistaates. Unklar ist, wie es mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen weitergeht. Wir haben aktuell 317 solcher Kinder und Jugendlichen.

Was sagen Sie den Leuten in den großen Unterkünften? Wie lange sollen die da noch leben?

Es gibt die kurzfristige Lösung: Dach über dem Kopf, warm, sicher. Dann soll es so schnell wie möglich in kleinere Einheiten gehen. Alles unter Vorbehalt: Wenn der Flüchtlingsstrom so anhält, brauchen wir die Unterbringung in größeren Einheiten ein halbes bis ein Jahr. Es gibt Prioritäten: Kein Kind mit Mutter und Vater gehört in so eine große Gemeinschaftsunterkunft. Fakt ist: Die beiden Schulen, die wir derzeit nutzen, sind definitiv bis Sommer begrenzt, dann brauchen wir sie wieder.

Das Thema ist auch ein finanzielles. Sie haben die entsprechenden Ausgaben zwar aus dem „normalen“ Haushalt ausgeklammert, aber wer zahlt am Ende? Und: Wie viele Flüchtlingen kann sich die Stadt finanziell leisten?

Ich gehe davon aus, dass Bund und Freistaat zu ihrem Versprechen stehen, dass die Finanzierung weitestgehend gedeckt wird. Tatsächlich geht der Freistaat 2016 mit Bundesmitteln und eigenen Mitteln in eine Vorab-Finanzierung, wir haben also 2016 erstmal kein Liquiditätsproblem. Wir müssen dann mit dem Freistaat die endgültige Finanzierung für den Doppelhaushalt 2017/2018 besprechen. Ich plane mit unserem Finanzdezernenten Torsten Bonew den Haushalt 2016 mit einer hundertprozentigen Gegenfinanzierung durch den Freistaat. Es kann nicht anders sein. Es ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, wir haben das Ganze vor Ort in den Kommunen nach dem Asylgesetz zu lösen, aber wir schaffen nicht die Finanzierung. Die aktuellen Betreuungskosten pro Flüchtling und Jahr liegen bei 10. 000 bis 10. 500 Euro. Das wird durch die aktuelle nachgebesserte Regelung mit dem Freistaat knapp gedeckt.

Und was ist mit den Investitionskosten?

Es gibt Sonderprogramme und Investitionszuschüsse oder das läuft über die Betriebskosten eines Dritten.

Sie gehen davon aus, dass Sie diese Anschaffungskosten für Container oder die Kosten für Umbauten erstattet bekommen?

Zumindest können wir einen Teil über das kommunale Investitionsprogramm in Sachsen finanzieren, das jetzt aufgelegt wird. Ob das alles zusammen mit den anderen Zuschüssen reicht, weiß ich noch nicht.

Welchen Einfluss hat der Stadtrat noch auf den Prozess, die CDU bemängelt Ihre vielen Eilentscheidungen…

Es geht hier um eine Pflichtaufgabe nach Weisung. Wir setzen vor Ort Bundesgesetz um. Dafür gibt es auch keinen Ermessensspielraum. Die Entscheidung des Stadtrats besteht darin, außerplanmäßige Mehrausgaben zu bewilligen oder nicht oder über eine Deckung zu befinden. Die Aufgabe kann er nicht verneinen. Ich war überrascht, dass die CDU das nicht verstanden hat. Wir sind gut beraten, hier schnell und zügig zu agieren.

Man fühlte sich wohl nicht genügend einbezogen…

In jeder Fach-Ausschusssitzungen wird zum aktuellen Stand berichtet. Die fachpolitischen Sprecher sind 1:1 informiert. Und demnächst monatlich im Stadtrat.

Die eigentliche Herausforderung, die Integration, steht ja noch bevor.

Das wird eine gewaltige aber entscheidende Herausforderung für uns alle, eine Herkulesaufgabe. Die Unterbringung werden wir lösen. Nicht für alle ganz zufriedenstellend, aber wir werden sie lösen. Wir wollen aber die Menschen, die bei uns bleiben, sehr schnell in unsere Lebenswelt integrieren. Wir müssen sie zuerst in Arbeit bringen, es gibt keine bessere Integration als das Miteinander am Arbeitsplatz. Die LVZ hat über den Vorstoß der Handwerkskammer zu Leipzig berichtet. Was kann uns Besseres passieren, als wenn Flüchtlinge gemeinsam mit Deutschen arbeiten? Das baut Vorurteile ab, schafft Gemeinschaft. Wir brauchen mehr Deutschkurse. Wir sind mit der Volkshochschule gut unterwegs, die da sehr systematisch arbeitet. Das ist gut angelaufen. Wirtschaftsbürgermeister Uwe Albrecht und die Agentur für Arbeit sind in der Spur, um das existierende Instrumentarium zu nutzen, Pilotprojekte zu starten. Ich finde es besser integrativ zu arbeiten, mit Programmen, die auch deutsche Arbeitssuchende nutzen können, als Sonderprogramme aufzulegen. Wichtig sind mehr Leistungen auf Bundesebene: Es braucht eine Finanzierung von berufsspezifischen Deutschkursen. Das gibt es derzeit noch nicht.

Ist die deutsche Bürokratie da flexibel genug? Wir kommen doch in der Integration nicht richtig voran, der genannte Vorstoß der Handwerkskammer kam erstmals im Januar…

Im jetzigen System ist die große Zahl der Menschen nicht in Arbeit zu vermitteln. Es braucht viel mehr unbürokratische und pragmatischere Lösungen. Wir müssen schneller werden – auch bei der Entscheidung, welche Menschen bleiben können und welche nicht. So kann man sich gezielter kümmern. Wir wollen gerne in Leipzig Vorreiter sein, ich hoffe, dass wir im Dezember ein Konzept vorlegen können, mit dem wir zeigen, was möglich ist.

„Diese Stadt wird in fünf Jahren nicht mehr dieselbe sein“ – das haben Sie im Stadtrat gesagt. Wie meinen Sie das? Wie wird diese Stadt in fünf Jahren sein? Damit sind ja auch Ängste verbunden.

Ja, das verstehe ich. Und darüber müssen wir offen reden. Das Stadtbild verändert sich, wir werden unterschiedliche Nationalitäten auf den Straßen, mehr Menschen mit Migrationshintergrund sehen, wir werden andere Kulturen und Religionen in den Stadtteilen erleben. Leipzig wird deutlich bunter und internationaler werden. Und es wird mehr Beziehungen zwischen Leipzigern und denen geben, die da kommen, mehr Mischehen, aus denen wieder Kinder entstehen. Wir müssen die Chancen und die damit verbundene Bereicherung erkennen. Wir können Ängsten und Sorgen nur begegnen, wenn wir in einer offenen Nachbarschaft aufeinander zugehen. Wenn wir keine Ballungen erzeugen und mehr Durchmischung erreichen. Es dürfen keine ganzen Blöcke entstehen, in denen die neuen Mitbürger unter sich wohnen. Man muss die Sorgen und Ängste ehrlich ansprechen, auch tatsächliche Probleme. Nur: Wir dürfen uns nicht einbilden, dass dieses Land sich abschotten lässt, ein Inseldasein pflegen und sich im Meer der Zeit mit sich selbst beschäftigen kann. Das ist der Fehler, den Legida und Co. machen. Selbst, wenn die Grenzen hermetisch abgeriegelt würden, wäre es eine Frage der Zeit, bis die Dämme brechen.

Wie kann die Stadt Integration steuern?

Nur beschränkt; dies ist eine Aufgabe der ganzen Stadtgesellschaft. Aber wir haben immerhin das Instrument der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft, wo jeden Monat etwa 60 bis 80 Asylsuchende in Wohnungen vermittelt werden. Wir können – wenn es ein staatlich gefördertes Wohnungsbauprogramm gibt – steuern, wo diese Wohnungen entstehen. Je besser dieser Einfluss am Anfang gelingt, umso besser die Integration. Sie sehen in Portitz, in der Pittlerstraße, wo es anfangs große Widerstände gab, wie gut sich die Situation dort entwickelt hat. Die meisten Vorurteile lassen sich in der direkten Begegnung in der Nachbarschaft, in der Schule und am Arbeitsplatz abbauen.

Interview: Björn Meine, Klaus Staeubert

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 05.11.2015