„Zu Hause in Grünau“

Vor 40 Jahren Grundstein für Großwohnsiedlung gelegt – Leipziger Amtsblatt 10/2016 vom 21.05.2016

„Grünau? Da wollte ich nie hin!“ Bernd Puckelwaldt sagt das noch heute mit Nachdruck. Musste er aber – vertretungsweise, im Jahr 1978, als Investingenieur, zuständig für Investitionsdurchführung beim Haupt-auftraggeber komplexer Wohnungsbau im Bezirk Leipzig. „Ich brauchte vierzehn Tage. Dann wusste ich: Hier bleibst du.“ Seinen Alltag bestimmte das Ringen um die Einhaltung von Terminen, auch der Kampf mit den Absurditäten der Planwirtschaft. Puckelwaldt blieb, berufl ich und privat: Erst bezog er eine Neubauwohnung, später baute er ein Eigenheim – im WK 8.3. Und nach 1990 arbeitete er im Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung.


„Szenen einer wachsenden Stadt in der Stadt.“
Fotos: Harald Kirschner, Stadt Leipzig, Karla Voigt, Uwe Walther, Henry Pfeifer Profi Luftbild


1976 war der Grundstein für die Großwohnsiedlung gelegt worden. Ihr Konzept basierte auf Prinzipien, die sich letztlich vom Bauhaus herschrieben. Gebaut wurde mit Hochdruck. Kräne zogen Platte um Platte die Wohnblocks hoch, dazwischen Erde und bei Regen Schlammlöcher. Ziemlich schnell verpasste der Volksmund denn auch der neuen Siedlung den Namen „Schlammhausen“.
1989 war Grünau im Wesentlichen fertig gebaut und zählte 85.000 Einwohner. Die Wohnhäuser standen, die Kaufhallen, Kitas, Schulen und Arztpraxen, es gab viel Grün, aber es fehlten Gaststätten, ein Kino, ein Saal für Veranstaltungen …

Erst Komfortzone, dann die Kehrseite

Die meisten, die in eine Neubauwohnung einzogen, hatten zuvor unter unzuträglichen Bedingungen gelebt. Wie Katja Schmidt, die vier Jahre alt war, als sie nach Grünau kam. Die helle, übersichtlich geschnittene Wohnung, Fernheizung, warmes Wasser aus der Wand. Selbst die Schlammlöcher mochte sie – als Spielgelände.
Dass die Idylle – komfortable Wohnungen, eng geknüpfte Nachbarschaften – auch eine Kehrseite hatte, zeigte sich unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen nach 1990. Grünau erlebte eine Wegzugswelle. Die Gründe waren vielfältig: der Wunsch nach einem Eigenheim, nach einer größeren Wohnung, nach einer anderen architektonischen Umgebung in sanierten Gründerzeitvierteln.

75 Millionen Euro für die Zukunft der Platte

Katja Schmidt etwa wollte als Studentin lieber Jugendstil statt Bauhaus à la DDR und zog in die Südvorstadt und später in die Nonnenstraße. „Platte“ – das hatte einen abschätzigen Klang und bescherte Grünau ein Negativ-Image, das die Grünauer als ungerecht empfinden. Denn jede Befragung der seit 1979 laufenden Intervallstudie „Wohnen und Leben in Grünau“ zeigt: Die übergroße Mehrheit ist mit Grünau als Lebensort zufrieden.
Grünau sollte eine Zukunft haben. Dafür engagierten sich nach 1990 die Stadtsanierer der Stadtverwaltung, die Fördermittel akquirierten, die Beteiligung der Bürger zur Erarbeitung von Konzepten organisierten und Vorhaben umsetzten. Mehr als 75 Millionen Euro Fördermittel sind seit 1990 nach Grünau geflossen. Damit wurden Modernisierungen von Häusern gefördert und wichtige Infrastrukturprojekte ermöglicht, die Defizite abbauen halfen. Es entstanden u. a. die Grünauer Welle und das Theatrium, und der Jugend- und Freizeittreff „Völkerfreundschaft“ wurde saniert. Die Gestaltung der Stuttgarter Allee südlich des AlleeCenters, die Sanierung des Schönauer Parks und die Entwicklung des „Schönauer Holzes“ als urbaner Wald setzten Zeichen. Ansprechend gestaltete Freiflächen, noch mehr Grün, Wegeverbindungen, z. B. ein perfektes Radwegenetz. „Der Bau Grünaus war aufregend, der Weiter- und Umbau mindestens ebenso – ich möchte keines von beiden missen“, sagt Bernd Puckelwaldt.

Wegzug gestoppt, Wachstum erkennbar

Grünau heute, das ist ein vitaler, bunter Stadtteil, oder eher eine Stadt in der Stadt, mit allen Problemen – vor allem Überalterung und relativ viele Einkommensschwache -, mit schönen Gegenden und solchen, die zu wünschen übrig lassen. Mit guter Verkehrsanbindung, gut ausgebauter Infrastruktur und mittlerweile auch einer neuen Eigenheimsiedlung, dem „Schönauer Viertel“. Der Wegzug ist gestoppt. Rund 41.000 Einwohner zählt Grünau heute, Tendenz leicht steigend. Abriss wird nicht mehr gefördert, angesichts des rasanten Wachstums der Gesamtstadt heißt die Perspektive eher Neubau und sogar Verdichtung. Die von der Wohnungsgenossenschaft Lipsia am Kulkwitzer See errichteten Häuser sind da nur Vorboten.
Und es gibt Rückkehrer, wie Katja Schmidt. Nach Studienjahren in England und Spanien zog es sie letztlich wieder nach Grünau. Heute ist die junge Frau, Dozentin für Englisch und Spanisch an der Volkshochschule, wieder „überzeugte Grünauerin“. Ihr Sohn und ihre Tochter besuchen die Montessori-Schule, in die sie selbst einst ging, als sie noch eine POS war. Bald wird der Jüngste dort auch
eingeschult …



I N T E R V I E W: „Attraktiver Wohnort für Leipziger“

Grünau ist sein Negativ-Image losgeworden. Was die Stadt investiert hat und wie sie weiter plant, darüber sprach das Leipziger Amtsblatt mit Dorothee Dubrau, Leipzigs Bürgermeisterin für Stadtentwicklung und Bau.


Wie würden Sie die Rolle und Stellung Grünaus innerhalb der Gesamtstadt beschreiben?
Die Großwohnsiedlung Grünau hat mit rund 41.000 Einwohnern das Format einer Mittelstadt. Gelegen am westlichen Stadtrand, wächst Grünau durch die Entwicklungen am Lindenauer Hafen und am Plagwitzer Bahnhof immer mehr mit der gründerzeitlichen Stadt zusammen und hat sich in den letzten Jahren sehr positiv entwickelt. Der Stadtteil ist durchgrünt, optimal mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen und bestens ausgestattet mit Versorgungs-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Die Grünauer sind sehr zufrieden mit ihrem Stadtteil, und Stück für Stück wird der positive Wandel der Siedlung auch von Nicht-Grünauern wahrgenommen. Die intensive stadtplanerische Beschäftigung mit Grünau, in das seit 1990 immerhin mehr als 75 Millionen Euro allein an Städtebaufördermitteln geflossen sind, das Quartiersmanagement und die intensive Zusammenarbeit mit den Akteuren vor Ort hat ganz wesentlich dazu beigetragen.

Nun haben sich die Prämissen für die zu DDR-Zeiten errichteten Großwohnsiedlungen im
Laufe der letzten 25 Jahre verändert. Welche Entwicklungsstrategie für Grünau verfolgt
die Stadt aktuell?

Nach den Jahren des Bevölkerungsverlusts stehen die Zeichen nun wieder auf Wachstum. Dafür sollen insbesondere die Qualitäten der sozialen Infrastruktur weiter ausgebaut werden, z. B. durch die Sanierung von Schulen, den Ausbau der Sportangebote oder die Errichtung eines Bildungs- und Bürgerzentrums an der Stuttgarter Allee. Die einzelnen Quartiere Grünaus sollen entsprechend ihrer Lagequalitäten und Akteurslandschaft zu eigenständigen „Adressen“ profiliert werden. Grünau ist sicher aufgrund der Flächenverfügbarkeit und der Grünstrukturen ein interessanter Ort für den Neubau. Hier gilt es, städtebaulich geschickt an die vorhandene Struktur anzuschließen.

Angesichts des rapiden Einwohnerzuwachses dürfte in Zukunft der soziale Wohnungsbau wieder eine größere Rolle spielen. Sehen Sie hier für Grünau neue Möglichkeiten?
Grünau übernimmt bereits jetzt einen überdurchschnittlichen Beitrag zur Integration von Schwächeren in die Stadtgesellschaft, beispielsweise auch durch die Aufnahme einer hohen Zahl von Flüchtlingen. Der Mietmarkt wird sich wahrscheinlich noch mehr räumlich auseinanderentwickeln. Wir müssen aus meiner Sicht eher darauf achten, dass in den hoch- oder mittelpreisigen Stadtteilen auch bezahlbarer Wohnraum erhalten wird. Daher sehe ich den sozialen Wohnungsneubau nicht prioritär in Grünau. Vielmehr zeigen die bereits gestarteten Projekte der Wohnungsgenossenschaften, dass Grünau in attraktiver Wohnstandort für Leipzigerinnen und Leipziger geworden ist.


Quelle: Leipziger Amtsblatt 10/2016 vom 21.05.2016