Einmal hätten seine Frau und er nach der Wende überlegt wegzuziehen aus Grünau, sagt Klaus Wagner. „Aber dann hab‘ ich gedacht, hier hast du alle deine Freunde, deine Bekannten.“ Und dann seien sie eben doch geblieben, vier Jahrzehnte nun schon, in Leipzig-Grünau, einer sogenannten Großwohn-siedlung am Westrand der Messestadt.
Am 1. Juni feiert Grünau den 40. Jahrestag seiner Grundsteinlegung. Es war einst das zweitgrößte Plattenbauviertel der DDR.
Wagner, 73 Jahre alt, war einer der ersten Mieter. Der neue Stadtteil trug im Volksmund den Spitznamen „Schlammhausen“, von Grün war in den Anfangsjahren wenig zu sehen. Die Siedlung entstand in einer Zeit, in der überall in DDR Menschen in ähnliche Viertel zogen. In Berlin wurden Plattenbauten hochgezogen, in Halle, Jena, Erfurt, Chemnitz. Es fehlten Wohnungen, allein in Leipzig 30.000.
„Ich wohnte vorher in einer Mansarden-Wohnung in der Südstadt“, erzählt Wagner, „das Dach war immer undicht.“ Die Zuteilung für eine Wohnung in Grünau sei ein Glücksfall gewesen, meint der Rentner, der sich heute im Quartiersrat engagiert. „Warmes Wasser aus der Wand, nie mehr Kohlen in den fünften Stock schleppen.“
Insgesamt acht Wohnkomplexe von Häusern mit 6, 11, 16 Etagen – nach Berlin-Marzahn war Grünau das größte Neubaugebiet. Nachdem es Mitte der 1980er Jahre fertig geworden war, wohnten rund 85.000 Menschen dort. Einer von ihnen war Matthias Möbius, Pfarrer der evangelischen Gemeinde im Viertel. „Ich wollte hierher, ich wollte hinter den Beton schauen. Das Gebiet wurde nach ’89 in den Medien beschrieben, als würde hier der asoziale Rand der Gesellschaft wohnen, aber das war so nicht“, sagt er. „Hier lebten Arbeiter, aber auch viele Funktionäre, Professoren, Ärzte.“
Ein Arzt in seinem Haus, berichtet Klaus Wagner, war der erste, der nach der Wende auszog. Der Einzige war er nicht: Innerhalb weniger Jahre halbierte sich die Bevölkerung des Stadtteils, Leerstand prägte das Bild. „Fast alle Großwohnsiedlungen haben diese Phase durchlaufen, in der vor allem junge, hochqualifizierte Leute und Familien gegangen sind – dahin, wo es Arbeit gab“, sagt Ralf Protz vom Kompetenzzentrum Großsiedlungen in Berlin.
Es folgte der Rückbau. In Grünau wurden 6800 Wohnungen abgerissen, von ehemals 19 Hochhäusern stehen heute noch 5. 2007 ging die Stadt Leipzig in einer Entwicklungsstrategie noch von „voraussichtlich weiter entstehenden Leerständen“ und einer Verkleinerung des Stadtteils aus. „Das Image des Stadtteils war nicht gut“, meint Wagner.
Menschen kehren nach Grünau zurück
Aber der Trend hat sich gewendet: Grünau wächst wieder. 2500 Menschen sind in den vergangenen fünf Jahren in die Siedlung gezogen. „Unter denen, die jetzt kommen, stechen zwei Gruppen heraus“, sagt Sigrun Kabisch vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. „Zum einen junge, gut ausgebildete Leute, die ganz neu zum Stadtteil finden, zum anderen die Rückkehrer – Leute, die hier ihre Kindheit verbracht haben und zurückkommen.“
Dass das Viertel attraktiver wird, liegt laut Kabisch auch daran, dass die „Platte“ nicht mehr die einzige Option ist. In und um Grünau entstehen andere Wohnformen – Einfamilienhäuser mit Garten, Neubauten mit Blick auf den nahen Kulkwitzer See. „Das Angebot ist sehr heterogen“, sagt sie. Und Leipzig wächst – Grünau wird gebraucht.
Gut, dass wieder neue Leute kommen und frische Ideen, findet Pfarrer Möbius. Aber harmonisch werde das Zusammenleben nicht von allein. „Die Leute, die schon sehr lange hier sind, sind sehr stolz“, sagt er. Wer neu dazu kommt, werde sich Grünau erarbeiten müssen, so wie die Generationen davor. „Die haben sich damals alles aufgebaut, sich aus nichts Rituale geschaffen“, so Möbius. „Sie haben sich den Beton geschmeidig gemacht.“
Theresa Martus