„Grünau 2.0 – neuer Swing in der Platte“

Neue Töne in Grünau: Beim Festumzug zum 40. Stadtteilgeburtstag Anfang Juni rollt der imposante Bach-Kopf des Straßentheaters Titanick durchs Plattenbauquartier. Die Festwoche zum Jubiläum stand auch im Zeichen eines neuen Aufbruchs. Foto: Sebastian Herold

Leipzigs größtes Plattenbauquartier feiert sein 40-jähriges Bestehen – und auch ein Comeback.

Die Stuttgarter Allee swingt. Banjo, Klarinette und Tuba eröffnen musikalisch den Weg für einen meterhohen, lila Bach-Kopf, den das Straßentheater Titanick durch die staunenden Zuschauer rollt. Musik, Tanz und Lachen füllen die Straßen.
Die Tanzkarawane ist einer der Höhepunkte der Festwoche, mit der Grünau Anfang Juni den 40. Jahrestag seiner Gründung feierte. Und der Umzug ist zugleich ein Bild des Aufbruchs: Nach Jahren im Zeichen von Abriss und Wegzug ist dort eine Trendwende gelungen: Neue Menschen und neues Leben ziehen in den einst belächelten Stadtteil, sogar neue Häuser mit Blick auf den Kulkwitzer See werden gebaut.
Nach dem traurigen Tiefststand von nur noch 40.000 Bewohnern 2011 werden wieder 42.500 Grünauer gezählt. Es kommen Rückkehrer aus Westdeutschland, junge Familien, die zu ihren Eltern wollen und Ältere, die aus einem Eigenheim im Grünen zu ihren Kindern ziehen, zudem ganz neue Grünauer. „An den Stadtteil wird heute ideologiefrei gedacht“, sagt Uwe Kowski, der Leiter des Quartiersmanagements. Immer neue Netzwerke entstehen. Kowski wünscht sich nur, dass noch mehr getan wird, um junge Familien für Grünau zu begeistern.

Künstler erobern die Platte

Ein zarter Neubeginn ist in dem grünen, ruhigen Stadtteil längst zu sehen: Für rund 70 Millionen Euro Fördergelder entstanden nicht nur Spielplätze, Parks und Spazierwege, sondern auch das Spaßbad „Grünauer Welle“ und viele soziale Einrichtungen. Stadtweit bekannte Szenetreffs beleben das Quartier und bieten Jugendlichen einen Zufluchtsort: Das Kinder- und Jugendtheater „Theatrium“, das „Heizhaus“, in dem Skater und BMX-Radler über Rampen rasen und der 21 Meter hohe Kletterfelsen „K4“, der aus abgerissenen Plattenbauten entstand und vom Alpenverein betrieben wird. Auch freie Schulen wie das Montessori-Schulzentrum des Bistums Dresden-Meißen sind hier Zuhause.
Als Seismographen neuer Trends erobern zudem Künstler die Platte: In der Ludwigsburger Straße 16, „LuBu 16“ genannt, wurden zum Beispiel zeitweise Künstlerwohnungen eingerichtet und als Ateliers und Galerien bespielt. „Sobald man Räume bereitstellt, werden sie genutzt. Das war früher nicht so“, sagt Sven Bielig, Leiter des Heizhauses. „Grünau wird interessanter.“ Zum Jubiläums-Kultursommer, der bis September Hunderte Konzerte, Ausstellungen und Aktionen bietet, gehört auch das Projekt „Raster Beton“.
Da laden Künstler zu Aktionen auf offener Straße ein: Rundtouren in einem fahrbaren Minikino, selbstgestaltete, orientalische Plattenbaufassaden und das „Grünau-Golf-Resort (GGR)“. Der Architekt und Künstler Daniel Theiler lädt bis Ende Juli ein, auf dem Grün zwischen den Hochhäusern Golf zu spielen. „Ziel soll es sein, das Image und die Exklusivität von Grünau neu zu überdenken“, sagt Theiler. „Die Grünauer können die Dinge selbst in die Hand nehmen.“


STIMMEN:

„Uns geht es richtig gut in Grünau. Die Infrastruktur stimmt, unsere Freunde leben hier und die Bäume, die wir einst gepflanzt haben, sind heute groß und grün. Wir sind wirklich heimisch hier. Der Abriss vieler Häuser hat anfangs wehgetan – wir haben sie ja noch entstehen sehen. Aber ein großer Leerstand hätte soziale Probleme möglicherweise verschärft. Flüchtlingen, die heute in Grünau leben, helfe ich beim Erlernen unserer Sprache – was nur ein erster kleiner Schritt sein kann, diese Menschen in Grünau wirklich zu integrieren.

Klaus Wagner, 73 Jahre, früher Lehrer, lebt seit 1979 mit seiner Frau in der Ringstraße

„Vor fünf Jahren kam ich aus Sondershausen nach Grünau. Der Makler hat mir nichts anderes angeboten und ich wollte sowieso in die Nähe vom Heizhaus. Ich liebe es BMX-Rad zu fahren und bin mehrmals die Woche dort. Dafür nehme ich die langen Wege zur Uni in Kauf. Grünau ist dabei für mich zwiespältig geblieben: Total ruhig und grün, ideal zum Entspannen und um Sterne zu fotografieren. Alles ist um die Ecke. Aber es gibt auch schwierige, unsanierte Straßen – um die mache ich einen Bogen.“

Andreas Grüttner, 23 Jahre, Uranusstraße, Lehramtsstudent für Mathe und Physik


BLICK IN DIE CHRONIK:

Am 1. Juni 1976 wird in der heutigen Gärtnerstraße der Grundstein für Grünau gelegt, Ende 1977 ziehen die ersten Mieter in „Schlammhausen“ ein. Bis 1987 entstehen sieben Wohnkomplexe zwischen Brünner Straße und Kulkwitzer See auf 3,6 mal 2,5 Kilometern Ausdehnung. Es war nach Berlin-Marzahn das zweitgrößte Neubaugebiet der DDR.
In den 2000er Jahren werden fast 70 Häuser wieder abgerissen, einer der letzten Komplexe ist die berühmt-berüchtigte „Eiger Nordwand“ in der Neuen Leipziger Straße. Nur fünf von 19 Sechzehn-Geschossern bleiben stehen. Von 35.500 Wohnungen 1999 verschwinden 7.710 – fast 22 Prozent. Die Einwohnerzahl halbiert sich von 85.000 im Jahr 1989 bis heute.
2011 werden nur noch 40.000 Bewohner gezählt – der Tiefstand. Doch nun wächst die Zahl wieder, heute auf fast 43.000. Fast 70 Millionen Euro Fördergelder flossen zugleich in die Neubelebung des Stadtteils mit Sportanlagen, sozialen Einrichtungen und viel Grün.


Sebastian Herold

Quelle: „Wohnzeit“ (Kundenmagazin der LWB), Ausgabe 2/2016