Auf Katastrophe folgt Jahrhundertsommer

Grünauer Verkäuferinnen erinnern sich an den 1. Juli 1990 im Konsum Ratzelstraße
(LVZ vom 01.07.2020)

Sie haben die Währungsunion am 1. Juli 1990 im Konsum-Markt an der Leipziger Ratzelstraße miterlebt und geben dieser Filiale bis heute Schwung: Petra Herrmann und Sabine Scholz-Jablonka (rechts). Foto: André Kempner

Soviel sei vorab verraten: Die Einführung der D-Mark im Konsum an der Ratzelstraße begann mit einer Katastrophe. Sabine Scholz-Jablonka und Petra Herrmann waren damals wie heute in der kleinen, aber besonderen Filiale tätig. Und sie erinnern sich gern an die „verrückte Zeit“.
Der 1. Juli 1990 war ein Sonntag – das werden die beiden charmanten Grünauerinnen nie vergessen. Viele Menschen feierten die Ankunft der D-Mark und den Wegfall der Grenzkontrollen – während die Verkäuferinnen in ihrem Leipziger Konsum unbezahlt umräumen mussten.
„Den ganzen Sonntag haben wir Regale leergeräumt. Es kam alles raus ins Lager. Die Ostwaren wollte ja niemand mehr haben“, erzählt Scholz-Jablonka (58). „Wir hatten gehofft, dass es in unserer Filiale nun auch auf einen Schlag wie im Intershop aussieht. Und genauso schön nach Lux-Seife und Kaugummi riecht.“ Doch die Lkw mit der Westware trafen aus unerfindlichen Gründen an dem Tag bis abends nicht ein.

Am ersten Tag fehlt Westware da
Am Montag um 8 Uhr standen dann lange Schlangen vor dem Laden. Viele Kunden erwarteten für die Neueröffnung mindestens ein Wunder. „Doch wir bekamen tatsächlich nur drei Warengruppen geliefert: Es war Weißwein aus Rheinhessen, Almi-Joghurt und Schwartau-Konfitüre. Ansonsten war der Laden leer.“
Verständlicherweise sehr aufgebracht seien die Kunden gewesen, fährt ihre Kollegin Herrmann (58) fort. „Aber wir waren ein kleines Geschäft mit wenig Platz, weil es in dem historischen Konsum-Haus damals noch einen Fleischer gab. Wir hofften, die Ware kommt bald, aber es kam nichts. Tagelang nichts. Weder die Lux-Seife noch der Kaugummi.“
Zum Glück hatte das Kollektiv – wie man in der DDR für Team sagte – viel Erfahrung im Improvisieren. Um die Regale zu füllen, wurden die Ostprodukte aus dem Lager im Keller nun wieder hinauf geschleppt.
Damit begann gleich das nächste Problem: Die Preise aus Ost und West passten einfach nicht zusammen. In der DDR waren Grundnahrungsmittel wie Brot oder Milch extrem billig. Fünf Kilo Kartoffeln kosteten 85 Pfennig. Hingegen griffen die staatlich festgelegten Preise bei vermeintlichen Luxusgütern stärker hin. Zum Beispiel wurden für eine Flasche Rotkäppchen-Sekt 17 Mark verlangt. 125 Gramm Kaffee (Moccafix oder Rondo) gab es für 8,75 Mark.

Pro Kopf gibt’s eine Banane
Mit dem Einzug der harten Währung war die staatliche Preisfestlegung jedoch abgeschafft. Stattdessen gab es für die Verkäuferinnen jetzt Listen mit Empfehlungen, die gewaltige Preisspannen und Lücken aufwiesen. So passierte es, dass eine Suppenterrine von Maggi für 5 D-Mark versilbert werden sollte, was Scholz-Jablonka „unverschämt“ teuer fand.
Sie selbst hatte erst am 8. April 1990 als Verkäuferin in der Ratzelstraße angefangen. Seinerzeit gab es dort noch das Schild „Wegen Warenannahme geschlossen“, mittags wurde für alle gemeinsam gekocht. Freitags kam der Bier-Laster mit dem begehrten Sternburg-Export. Davon landete stets ein Kasten bei einem örtlichen Gemüsehändler, damit der Nachschub bei frischem Obst für den Laden gesichert blieb. „Wenn es mal Bananen gab, teilten wir sie den Familien pro Kopf zu. Jedes Familienmitglied bekam eine Banane, Kinderreiche etwas extra.“ Trotzdem seien die Kunden dann glücklich gewesen. „Die Leute konnten sich noch über einfache Dinge freuen. Heute gibt es alles in Hülle und Fülle, aber die Freude darüber ist leider weg.“
Scholz-Jablonka hatte beim Konsum eine Gastronomie-Ausbildung absolviert. Zu DDR-Zeiten betrieb die Genossenschaft in Leipzig auch Dutzende Restaurants und Kneipen. Die Arbeitszeiten dort waren für die junge Mutter nach dem zweiten Kind aber nicht mehr akzeptabel. So war sie heilfroh über den Wechsel in den Einkaufsmarkt an der Ratzelstraße – dort leitet sie heute ein zehnköpfiges Team mit modernster Technik.
Zur Währungsumstellung vor 30 Jahren sah das ganz anders aus. Das Haus war baufällig. An vier Kassen auf engstem Raum mussten die Einkäufe ab dem 1. Juli in zwei Währungen abgewickelt werden, weil weiter auch mit Ost-Mark (im Kurs 2:1) bezahlt werden konnte, erinnert sich Herrmann. Sie ist ebenfalls Mutter zweier Kinder, war 1990 stellvertretende Filialleiterin in der Ratzelstraße und kehrte – nach 20 Jahren bei einer Bäckerei – gern dorthin zurück.
Die Einlagen der Genossenschafter wurden 1:1 umgestellt. Nach zwei Wochen klappte es auch mit dem Waren-Nachschub aus dem Westen.
Nun brach in der Filiale ein Jahrhundertsommer aus. „In Grünau gab es nur ein paar eilig aufgestellte Zelte der Konkurrenz, wo alles in Kartons hingestellt wurde. An der Ratzelstraße waren wir der einzige Supermarkt für ein riesiges Einzugsgebiet.“
Abends brachte Herrmann die Tageseinnahmen in einem Sack zur Sparkasse am Adler. „Ich bin oft mit über 100 000 D-Mark mit der Straßenbahn gefahren, habe dabei Blut und Wasser geschwitzt.“ Erst 1992 wurde ein Geldtransport engagiert.

Leute wollten alles ausprobieren
Scholz-Jablonka weiß noch, dass sie in dem heißen Sommer 1990 mal in zwei Stunden Einkäufe für über 10 000 D-Mark in ihre Kasse tippte – ohne Pause. Scanner gab es ja noch nicht. „Dann bin ich fast in Ohnmacht gefallen. Aber die Leute waren wie verrückt nach den neuen Sachen, wollten alles probieren.“
Es dauerte nicht lange, da kamen die Discounter und andere erfahrene Handelskonzerne aus dem Westen nach Leipzig. Der Konsum mit seinen alten DDR-Strukturen – wie allein 500 Mitarbeiter in der Verwaltung – stürzte in eine schwere Krise, stand mehrfach kurz vor dem Bankrott.
Dass die 1884 gegründete Genossenschaft die deutsche Wiedervereinigung überlebte, hat sie vor allem Stephan Abend zu verdanken. Den leider bereits verstorbenen Konsum-Vorstand, der im August 1991 von Hamburg nach Leipzig kam, verehren die beiden Verkäuferinnen bis heute sehr.
Auch auf das aktuelle Führungsduo lassen sie nichts kommen. „Bei uns geht es gerecht zu. Die Mitarbeiter genießen Achtung und werden gefördert. Die Filialen werden immer besser und beliebter, der Umsatz steigt.“ Die zwei Frauen haben also einigen Grund, am 1. Juli 2020 auf 30 Jahre Währungsunion anzustoßen. Das wollen sie abends in ihrem Wohnviertel in Grünau tun – natürlich mit Rotkäppchen-Sekt.

Jens Rometsch

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 01.07.2020