Ende September 2012 erreichte das QM eine Mail aus Wien. Inhalt: 3 Wiener/innen fragten an, ob die Möglichkeit bestünde, Grünau mit seiner Plattenbauten-Architektur in einer speziellen Führung kennen zu lernen. Ein Reisebüro sähe sich nicht in der Lage, derartiges zu organisieren, das Interesse daran seitens der Absender sei jedoch riesig …
Einen Monat später: 3 Wiener/innen – mitten in Grünau. Ein persönlicher Bericht über unterschätze Größe, architek-tonische Eindrücke und überraschende Nutzungsvielfalt …
Autorin Jutta Angerler (Mitte), Christian Philipp (l.) und Erich Lang (r.) aus Wien mit Stadtteilmoderatorin Antje Kowski (2.v.r.) und ASW-Gebietsbeauftragte für Grünau, Anne Kraft (2.v.l.).
Jutta Angerler:
Wohlfühlort (Teil 1)
„Es war 2004 im Geburtsvorbereitungskurs. Wir machten gerade einige Entspannungs- und Atmungsübungen. Dann meinte die Trainerin, wir sollen uns für die Entspannungsphasen zwischen den Wehen gedanklich an unseren persönlichen „Wohlfühlort“ begeben um wieder Kraft zu schöpfen. Wohlfühlort!? Da musste ich erst einmal nachdenken. Eines stand jedenfalls gleich fest: Mit den vorgeschlagenen Beispielen à la „Blühende Frühlingswiese“ oder „Herbstwald“ konnte ich jedenfalls nichts anfangen.
Einige Zeit später, mein Kind war in der Zwischenzeit vier Wochen zu früh auf die Welt gekommen und für virtuelles Ausrasten am Wohlfühlort war während der Geburt auch keine Zeit geblieben, fiel mir ein altes DDR-Revue-Heft aus den 80ern in die Hände. Ich hatte es 1986 ursprünglich als Vorbereitung für ein Schulreferat über die DDR (der in österr. Schulbüchern in der Regel selten mehr als ein Absatz gewidmet wurde) bekommen. Als ich so blätterte begegnete mir das riesige Ernst Thälmann-Denkmal in Berlin am Prenzlauer Berg wieder. Hinter ihm waren eine moderne Plattenbausiedlung und ein paar Baumsetzlinge zu sehen. Der dazugehörende Bericht rühmte das erfolgreiche Wohnbauprogramm der DDR. Sieht doch gar nicht so schlecht aus, dachte ich mir 1986. – Was wohl heute aus dieser Siedlung geworden war?
Meine Neugier war geweckt und ich begann nun verstärkt nach Literatur zum Thema Plattenbau zu suchen. Im Keller fand ich auch noch eine weitere Ausgabe der DDR-Revue aus 1987. Wieder so ein Bild: Im Vordergrund spaziert eine Mutter bei strahlendem Sonnenschein mit einem Kinderwagen auf einem Gehweg. Im Hintergrund eine nicht enden wollende Plattenbausiedlung. Der „Standardtext“ zu diesem Bild enthielt in etwa das gleiche, wie im zuvor gelesenen Heft und kam mir daher schon bekannt vor.
Ich betrachtete das Bild und fing an, die einzelnen Stockwerke der Bauten zu zählen. … Wer wohnte zu DDR-Zeiten hier, wer heute? Was war aus den Leuten geworden? Vor allem aber, wie wohnt(e) es sich eigentlich in einem Plattenbau? Wieviel Leerstand mag es heute wohl hier geben? Wie war der Grundriss der Wohnungen? Ich versuchte anhand der erkennbaren Ausstattung der Balkone und der Gardinen Rückschlüsse auf die BewohnerInnen zu ziehen und je länger ich das Bild betrachtete, desto mehr individuelle Details fielen mir auf: Blumenkästen, unterschiedlich gestaltete Rückwände, Markisen, … es hatte fast etwas Meditatives, sich in dieses Bild zu vertiefen.
Die architektonische Homogenität der Bauten hingegen strahlte eine Art Ruhe und Ordnung aus. – Da war mir klar, ich hatte so etwas wie meinen virtuellen Wohlfühlort gefunden!
Grünau heißt uns willkommen!
Irgendwann fasste ich den Entschluss, „eine richtig große Plattenbausiedlung“ selbst kennen lernen zu wollen.
Gemeinsam mit zwei guten Freunden wollte ich nicht nur das Ostrock-Konzert am 26.10.2012 besuchen, sondern in der restlichen Zeit Leipzig kennen lernen. Ich übernahm die etwas andere Reiseplanung, die Leipzig-Grünau, den Stasi-Bunker in Machern und das Alte Messegelände, das sich (leider) gerade im „Rückbau“ befindet, beinhaltete.
Auf die Plattenbausiedlung Leipzig-Grünau war ich wegen der Größe aufmerksam geworden. Ich schrieb mein Anliegen an das Stadtplanungsamt Leipzig und kam so mit dem Stadtteilladen und mit Frau Dr. Evelin Müller in Kontakt, die sich gerne bereit erklärte, uns drei Wienern „ihr“ Grünau zu zeigen.
Im Stadtteilladen wurden wir von Frau Kowski nicht nur wie Staatsgäste empfangen, auch waren Frau Kraft, die Gebietsverantwortliche für Grünau im Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung sowie der Stadtumbaumanager Herr Pfeiffer hierhergekommen und nahmen sich extra 1 1/2 Stunden Zeit um uns ausführlich über Grünaus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erzählen. Das war äußerst informativ! Wir waren wirklich beeindruckt!
Dann wurden wir von Frau Dr. Müller abgeholt und starteten unseren „Rundgang“ auf der Stuttgarter Allee. Wir kamen beim imposanten Kletterfelsen aus recycelten Platten vorbei und haben gleich einmal gestaunt, dass aus alten Platten wieder so etwas Sinnvolles entstehen kann! Dann gingen wir die Alte Salzstraße entlang bis zum Jugend- und Altenhilfeverein e.V. An der Kotsche, wo wir bei einem köstlichen Kaffee viel über das soziale Engagement dieses Vereines erfuhren. Gestärkt wanderten wir auf den schönen „Rodelhügel“ beim Kulkwitzer See hinauf, von wo man einen wunderbaren Ausblick auf den See und auch auf einen Teil Grünaus hat. Zurück ging es dann bis zur Miltitzer Allee. – Da wir einen Schrittzähler mithatten, staunten wir nicht schlecht: Obwohl wir mittlerweile 7,5 km zu Fuß zurück gelegt hatten, hatten wir lediglich Teile der WK 4 und WK 8 gesehen! Da wurde uns schlagartig klar: Wir hatten die Dimensionen von Grünau völlig unterschätzt.
Die Lage
Linie 2, Station „Stuttgarter Allee“, wir waren also da. Wir gehen an einem PH16 vorbei … hier befinden sich also die „Grünauer Welle“ und der Jugendclub „Völkerfreundschaft“ … eine Schule … und gleich vis à vis eine klassische Ladenzeile … ich weiß erstmal nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Was mir gleich auffällt: Grünau hat etwas, das in vielen Städten immer knapper wird: Raum und sehr viel Grün.
„Wohnen in ruhiger Grünlage, überwiegend lockere Bebauungsweise, verkehrsgünstig gelegen, 20 Minuten in die Innenstadt, fahrradfreundlich, teilweise autofrei, Badesee und Hallenbad zu Fuß erreichbar, parkähnlicher alter Baumbestand, gute Nahversorgung, sehr gute Infrastruktur (Schulen, Kindergärten, Ärzte, Apotheken), …“ diese Aufzählung könnte auch einer aktuellen Hochglanz-Immobilienbroschüre entnommen sein und ließe sich noch fortsetzen. Eine Wohnung in so einer Lage, die muss doch sicher sehr teuer sein!? Nicht in Grünau, wie uns Frau Dr. Müller aufklärte. Ich denke, tatsächlich gibt es heutzutage in Großstädten nicht mehr allzu viele solcher – ich möchte fast sagen „Bestlagen“ – wo sich noch dazu viele Menschen eine Wohnung auch leisten können.
Mir persönlich hat es übrigens am besten in der Stuttgarter Allee bei der Metallskulptur „Arbeitersport – eine Form des Klassenkampfes“ von Karl-Heinz Steinbrück gefallen. Durch ihre geschwungene Form wirkt diese Skulptur äußerst dynamisch und das passt wiederum perfekt zur Entwicklung von Grünau.
Darüber hinaus hat der Platz vor der Skulptur einfach das gewisse Etwas: Hier ist es urban und doch grün – belebt und doch findet man ein lauschiges Plätzchen für sich. Ja, wenn es hier im Sommer noch ein kleines Café gäbe, wo man gemütlich im Schatten sitzend seinen Espresso genießen könnte … ich glaube, das wäre mein „Wohlfühlort“ in Grünau! …“
Jutta Angerler
(Teil 2 in Kürze …)