„Das reine Schau-Spiel“

Grandios: „Die Gräte“ am Theatrium
Kritik der Leipziger Volkszeitung vom 23.03.2015:

Unschuld ist ein Menetekel. Ein Stachel, der Abscheu und Begehren in einem auslöst. In einer Welt ununterbrochener Maskeraden wird das maskenlose Gesicht zur Provokation. Im reinen Gedanken wie im reinen Herzen liegt das Subversive. Denn Gedanken ohne Hintergedanken, Gefühle ohne Kalkül – das ist gefährlich. Das unterläuft die Vereinbarung, den insgeheimen gesellschaftlichen Konsens. Und so was darf nicht sein. Ganz im Ernst: Wer in Leipzig gutes Theater sehen will, sollte nach Grünau fahren. Im dortigen Theatrium läuft seit Freitag „Die Gräte“. Eine Inszenierung, frei nach Witold Gombrowiczs „Yvonne, die Burgunderprinzessin“. Ein Stück, das seinerseits Shakespearesche Figurationen hin ins absurde Theater parodiert.
Der Plot ist simpel: Ein Mädchen, ganz sanfte, stumme Unschuld, gerät an einen Königshof geschwätzig intriganter Gefühlsdegeneration. Dass der Prinz aus dieser Hochadels-Bagage besagtes Mädchen zu lieben glaubt, ist für dieses das Todesurteil. Mit Karauschen (!() wird selbiges vollstreckt.
Ein Stoff, aus dem Georg Herberger mit seinem Darstellerensemble eine hinreißende Farce geschmiedet hat. Aber eine Farce in Moll. Eine Inszenierung, böse lachend traurig – und auf leerer Bühne. Denn tatsächlich riskiert man hier das reine Schau-Spiel, den Rückgriff auf die Quintessenz des Theaters: den Körper im leeren Raum.
Ganz so, als wäre just das Theatrium die einzige Leipziger Bühne, die dem sonst ja verräterisch frohgemut ignorierten Peter Brook, der am Samstag seinen 90. Geburtstag feierte, Referenz erweist mit diesem Inszenierungs-Konzept: Keine Kulisse, keine Requisiten. Nur Licht, Maske, Spiel.
Und man muss hier nicht davon reden, welche Gefahren gerade für nicht professionelle Darsteller in dieser Reduktion liegen. Es reicht zu sagen, dass das Stück trotzdem – nein: genau deshalb – gelungen ist: inszenatorisch mit dem Gespür für szenische Dynamik im gut austarierten Wechsel zwischen Witz und Dramatik. Wunderbar in der visuellen Tim-Burton-Film-Anmutung bei Maske und Kostüm. Und darstellerisch mit einer einnehmenden Lust und Leidenschaft, einer Konzentration und Souveränität, ob der allein man plötzlich wieder spürt, dass Theater etwas Lebendiges, Ehrliches und Berührendes ist.
Wer das mal wieder fühlen will: Auf nach Grünau!

Steffen Georgi

Quelle: Leipziger Volkszeitung vom 23.03.2015