„Eine Ode an die Fantasie“

Junge Schauspieler führen selbst geschriebenes Stück über die Freiheit des Individuums erfolgreich im Theatrium auf – LVZ vom 09.10.2017

„Ich lerne zu laufen, zu essen und zu arbeiten. Was brauche ich denn mehr?“, fragt Anna. Sie lebt in einem totalitären Staat, der an Orwells „1984“ oder Huxleys „Schöne neue Welt“ erinnert. Ein Fehler – sie wollte ihrem Angebeteten helfen – isoliert das Mädchen. Sie beginnt zu hinterfragen, ob das System perfekt ist, ob sie wirklich zufrieden ist. Fünf Schauspieler zwischen 23 und 25 Jahren haben über ein Jahr das Theaterstück „Anna oder der freie Wille“ selbst geschrieben und erarbeitet. Am Freitag feierte es im Theatrium Grünau Premiere.
Annas Welt ist grau und mechanisch. Alles funktioniert, jeder hat seine Aufgabe, Gefühle sind den Menschen fremd. Das wird deutlich, als Anna versucht, mit Aron zu flirten. Der ist perfekt ins System integriert. Auch ihre Schwester Nora hat nichts für Befindlichkeiten übrig. Alle sind scheinbar zufrieden, sprechen künstlich, bewegen sich starr. In der Arbeit will Anna Aron dann beim Heben einer schweren Box helfen. Das führt zu Problemen: Denn jeder Mensch soll tun, was der Staat ihm aufträgt, Hilfe hat keinen Platz im System. Anna wird von Omnia verurteilt. Die therapiert das Mädchen. Gleichzeitig trifft Anna Nemo, der anders ist und alles hinterfragt. Schließlich gibt ihr Nemo ein Buch: Die unendliche Geschichte. Anna findet Freiheit und Fantasie. Sie bricht aus.
Die fünf jungen Erwachsenen haben ein etwa einstündiges Stück erarbeitet, das tiefgründig die Gefahren und Verlockungen des Totalitarismus benennt und dabei den Freiheitsbegriff in Frage stellt, ohne zu moralisieren. Mit einfachen Mitteln und großem schauspielerischem Talent zeigen sie den Kontrast und die verschiedenen Stufen der Unfreiheit: Während Anna – berührend von Maxi Leopold gespielt – meist normal spricht, bewegen sich ihre Schwester Nora und Aron (überzeugend: Jenni Thamm und Dominique Kunze) wesentlich angepasster. Sprache und Mimik haben keinen Platz für Gefühle. Omnia, die den Staat verkörpert, baut vor den Gehirnwäsche-Sitzungen eine Fassade auf. Es wird deutlich, dass auch sie nicht hundertprozentig vom System vereinnahmt ist. Am Ende des Stücks – Anna bricht die Therapie ab – ringt Omnia um Fassung. Laura König spielt die Rolle wunderbar komisch.
Denn Nemo, inszeniert von Joachim Kern, zeigt Anna eine Welt der Fantasie: „Schönheit, Genuss, die Freiheit zu machen, was man will“. Wunderbar dargestellt ist der Kontrast dieser fantastischen Buch-Welt zum grauen System: Die Bewegungen sind fließend, die Kostüme bunt, die Figuren lachen und tanzen. Durch dieses Erlebnis entsagt Anna dem System. Auf der Bühne steht ein dreistufiges Podium, sämtliche Stimmungen werden durch Kostüme, Maske und Schauspiel transportiert. Dadurch, dass Maxi Leopod, Laura König, Joachim Kern, Dominique Kunze und Jenni Thamm die Freiheit des Individuums so intensiv hinterfragt und diskutiert haben, gelingt ihnen die schauspielerische Leistung mühelos. Die Mitglieder des Altenprojekts des Theatriums sind Experten der Materie, haben jede Szene erst für sich geschaffen und in die Handlung geschickt Spannungsbögen und übergeordnete Zusammenhänge gesponnen. Die Leistung ist beachtlich, das philosophische zeitlose Stück sehenswert. Theater über die Berechtigung von Fantasie und Kultur, Sinnbilder für den freien Willen.
Nächste Vorstellung am 27. Oktober (20 Uhr), Karten über www.theatrium-leipzig.de.

Theresa Held