Linken-Stadtrat Siegfried Schlegel im Interview –
Artikel der Leipziger Internet Zeitung vom 09.06.2011:
?Grünau ist sowohl städtebaulich und besonders sozial konsolidiert?, sagt Bauingenieur Siegfried Schlegel zum 35. Geburtstag des Stadtteils. Stolz und Genugtuung empfindet er mit Blick auf das, was er ab 1979 beim Aufbau des Stadtteils geleistet habe. Der Stadtumbau sei vor allem mit den Menschen zu gestalten, so der heutige Leipziger Linken-Stadtrat.
Herr Schlegel, der in Plattenbauweise errichtete Leipziger Stadtteil Grünau wird 35. Wo lagen eigentlich die Anfänge des Plattenbaus?
Der erste Plattenbau mit raumgroßen Bauelementen wurde nicht in der Sowjetunion und erst recht nicht in der DDR gebaut, wie man zunächst vermuten könnte, sondern Anfang der 1930er Jahre in Paris. Städtebau ist nicht der Hintergrund, da dieser erste Plattenbau als Lückenschließung in eine umgebende Bebauung mit historisierender Architektur eingepasst war und die Fassadengestaltung der Nachbarhäuser in vereinfachter Formsprache widerspiegelt.
Städtebau folgt zuerst den gesellschaftspolitischen Ansprüchen. In Städten sind für alle sozialen Schichten mit gut und weniger gut Verdienenden bezahlbare Wohnungen mit Sonne, Licht und gutem Stadtklima zu schaffen, was im 20. Jahrhundert durch hoch verdichtete Gebäude und größere Gebäudeabstände sowie ein großflächig begrüntes Wohnumfeld erreicht werden sollte.
Montagebauweisen waren und sind deshalb Mittel zum Zweck, rationell und kostengünstig errichtete Gebäude mit standardisierter Ausstattung und vereinheitlichten Raumstrukturen zu schaffen.
Seit wann fand diese Bauweise in Leipzig Anwendung?
Stahl- und Stahlbetonskelettbauweisen wurde ab 1900 in vielen aufstrebenden Städten angewandt. Ein besonderes Beispiel dafür ist das in Marienbrunn immer so genannte und von Hubert Ritter projektierte „Stahlhaus“ in der Zwickauer Straße: eine Stahlstützen-Stahlstützenriegel-Konstruktion, die ohne Kran mit dem im Brunnenbau noch heute verwendeten Dreibock montiert wurde.
Die Großblock- und Plattenbauweise mit industrieller Vorfertigung wurde vornehmlich in Frankreich und der Sowjetunion im Zuge der Industrialisierung und nach 1945 in den im Krieg besonders zerstörten Städten angewandt. Der erste DDR-Plattenbau steht in Hoyerswerda und die ersten Leipziger am Georgiring.
Sie haben am Aufbau und an der Gestaltung Grünaus verantwortlich mitgewirkt. Welche Gedanken verbinden Sie mit dem Jubiläum?
Stolz und Genugtuung, mit vielen mehreren tausend Bauarbeitern zwischen 1979 und 1993 unmittelbar am Bau der größten Großwohnsiedlung der DDR außerhalb Berlins und ohne Hilfe aus anderen Bezirken in Leipzig-Grünau mit rund 37.000 Wohnungen sowie einer Vielzahl von Kitas, Schulen, Sport- und Kaufhallen, Ambulanzen, Apotheken, Dienstleistungseinrichtungen, Gaststätten und Jugendklubs mitgebaut zu haben.
Welche Herausforderungen beim Aufbau Grünaus sind Ihnen als die größten in Erinnerung geblieben?
Meine Tätigkeit in Leipzig-Grünau begann ich im September 1979 als GAN-Bau- bzw. Oberbauleiter für Straßen und Brücken- und Freiflächenbau. Von 908 fertig gestellten Wohnungen 1977 wurde das Bautempo bis auf circa 3.900 pro Jahr ab 1979 gesteigert. Erkennbar vergrößerte sich die Schere zwischen Hoch- zum Straßen- und Freiflächenbau. Wurde bis 1980 in den WK 1 ? 3 noch eine großflächige Freiflächengestaltung angestrebt, konnten aus kapazitiven Gründen ab dem WK 4 zunächst im Original nur einseitig entweder die Straße oder ein Innenhofweg gebaut werden. Den circa 2000 im Hochbau auf der Baustelle tätigen standen nur circa 30 Freiflächen- und 30 Straßenbauer gegenüber. Es wurde abschnittsweise gebaut, da an den Wohnscheiben/ Wohnquartieren bei der Fertigstellung der ersten Wohnung noch an den letzten montiert wurde.
Bei den Kinderkombinationen und Schulen wurde ähnlich vorgegangen. Unmittelbar nach Ende der Montage und Abbau der Kranbahn sowie der Montage-Baustelleneinrichtung wurde mit der Freiflächengestaltung begonnen. Zur Inbetriebnahme der Kinderkombination stand dann über die gesamte Gebäudelänge eine circa 15 m breite endgültige und provisorisch abgezäunte Freifläche für Krippe und Kindergarten zur Verfügung. Nach Fertigstellung der Gesamtfläche musste lediglich der provisorische Zaun entfernt werden. Ohne Unterbrechung stand somit den Einrichtungen eine Freifläche zur Verfügung, zumal auch in der Umgebung gestaltete Spielplätze meist fehlten.
Wie wirkten sich die begrenzten ökonomischen Möglichkeiten der DDR auf das praktische Baugeschehen aus?
In den 1960er Jahren waren in Leipzig weniger Wohnungen neu gebaut worden als nach rund einhundert Jahren Standzeit verschlissen waren. Diesen quantitativen Rückstand aufzuholen, war die große Herausforderung und nur mit einer Großbaustelle wie Grünau möglich. Deshalb wurden dort neben der Vergrößerung der WK 7 und 8 auch innerhalb der Wohnkomplexe viel mehr Wohnungen errichtet, als ursprünglich vorgesehen waren. Vor allem diese Bestände wurden in Grünau im Rahmen des Stadtumbaus zurückgebaut.
Obwohl auch in der DDR galt, dass Gebäude mit mehr als 5 Geschossen einen Aufzug benötigen, wurde die Vorschrift auf 6 erhöht. Besondere Anforderungen gab es auf den Berlin-Baustellen, da außer Frischbeton alles andere einschließlich Maschinen und Geräte von den Baukombinaten selbst organisiert nach Berlin transportiert werden musste. So bedurfte das Leben auf den Leipziger Baustellen, insbesondere die Organisation der knappen Hebezeuge, einer hohen Koordination.
Wenn Sie die Menschen in Grünau beschreiben sollen: Welche Eigenschaften würden Sie ihnen zuschreiben?
Insbesondere in den ersten Jahren Grünaus wurden die Wohnungen nicht nur nach der Bedürftigkeit, sondern auch nach der Arbeitsleistung und gesellschaftlichem Engagement vergeben, so dass in dem Wohngebiet immer eine engagierte Bürgerschaft wohnte. Außerdem wirkte, dass Grünau im Gegensatz zu anderen Stadtteilen nicht nur Schlafstadt mit Wohnungen war. Vielmehr wurden ziemlich zeitnah auch Schulen, Kitas, Sport- und Kaufhallen und Dienstleistungseinrichtungen, Bibliotheken und Jugendclubs gebaut, die in vorherigen Wohngebieten als so genannte ?Nachfolgeeinrichtungen? viel später oder überhaupt nicht gebaut wurden.
Nicht zu unterschätzen ist, dass Anwärter an eine Genossenschaftswohnung nicht nur Genossenschaftsanteile bezahlten, sondern auch Arbeitsleistungen nicht am eigenen Haus, sondern im Wohngebiet leisteten. Ebenso wichtig war, dass Mieter kommunaler Wohnungen je Haushalt einhundert Stunden zur Gestaltung der Grünflächen in Grünau leisteten. Dies prägte das Zusammengehörigkeitsgefühl. In diesem Wissen empfahl ich auf Anfrage des Bundesbauministers Prof. Klaus Töpfer auf einer Konferenz 1996 in Schwäbisch-Hall, dass das für Leipzig vorgesehene Expo-Projekt Planspiel mit breiter Beteiligung von Bürgern und Akteuren in Grünau stattfindet.
Wenn Sie Grünau heute betrachten: Welche Perspektiven sehen Sie für den Stadtteil?
Grünau ist sowohl städtebaulich und besonders sozial konsolidiert. Vor allem junge Menschen und Menschen ab Mitte 50 suchen in Grünau eine Wohnung, die in angemessener Größe gleichzeitig für die Älteren altenfreundlich und auf Dauer bezahlbar ist. Werden doch in den kommenden Jahren viele in die Rente gehen, die eine oft jahrelange gebrochene Erwerbsbiografie haben und deren Renten nicht ans Westniveau angepasst sind.
Konsequent stehen wir zum Projekt Lindenauer Hafen, der als wichtiger Teil des Leipziger Gewässerverbundes auch die Verbindung zwischen Grünau und dem bis in die Innenstadt reichenden Stadtteil Lindenau herstellt. Nur wenige Stadtteile besitzen so eine für alle Generationen freundliche Infrastruktur und Angebote wie Grünau. Die von Grünauern entwickelte kostengünstige Idee der Quartierbuslinie stellt eine noch bessere Verbindung zwischen den einzelnen Wohnkomplexen her. Trotzdem ist die S-Bahn als Rückgrat von Grünau unverzichtbar, kommen neben den Berufspendlern auch zahlreiche Einwohner aus westlichen und sogar nördlichen Stadtteilen, um die Angebote wie Komm-Haus und Altenhilfeverein oder das Theatrium zu nutzen. Die Einführung des Grünolino wurde 2010 sogar durch eine Quartierbuslinie überholt, die Schönefeld und Sellerhausen verbindet.
Es bleibt für uns die wichtigste Herausforderung. Stadtumbau und Entwicklung ist nicht nur für die Menschen, sondern vor allem mit ihnen zu gestalten. Ebenso war und ist es für uns von der linken Stadtratsfraktion wichtig, immer die Eigenverantwortung der Wohnungseigentümer beim Abriss hervorzuheben. Diese Verantwortung verbunden mit dem Ziel, die Mieter im Unternehmen zu halten, nehmen die Wohnungsunternehmen immer stärker wahr.
Gernot Borriss
Quelle: Leipziger Internet Zeitung vom 09.06.2011