„Wenn der König wissen will, wie du so lebst“

Das niederländische Königspaar kommt zum Arbeitsbesuch nach Deutschland. Willem-Alexander und Máxima informieren sich über deutsche Wohnkultur – in einem Plattenbauviertel in Leipzig. Was wollen sie ausgerechnet da? – F.A.Z.-Artikel vom 10.02.2017

Das niederländische Königspaar mit OBM Jung (li.) und Ministerpräsident Tillich (re.). Foto: DPA

Bis vor kurzem dachte Klaus Wagner, dass sich für seinen Stadtteil noch nicht einmal der Leipziger Oberbürgermeister interessiere. Jetzt sind auf einmal Königs in Grünau und weichen von Weg und Protokoll ab. Die Majestäten Willem-Alexander und Máxima schütteln den Kindern hinter dem Absperrband die bewimpelten Hände, der Tross steuert kopflos zurück auf den Pfad, dann sind alle wieder im Plan: einmal rüber über den Wochenmarkt, der Käsemann hat niederländisch geflaggt, nach sechseinhalb Grünau-Minuten muss Willem-Alexander die Frage beantworten, wie ihm die Gegend gefalle. „Bis jetzt sehr gut“, sagt er artig, und man kann sich schon fragen: Was wollen die ausgerechnet hier, im größten Plattenbaugebiet, das in der DDR außerhalb Berlins errichtet worden ist?

König Willem-Alexander und seine Frau Máxima sind offiziell auf Arbeitsbesuch in Deutschland. Sie haben bretonischen Hummer in Weimar gegessen, interessierten sich für Goethe und die Geschichte der Wartburg, waren zum Gedenken im Konzentrationslager Buchenwald. In Leipzig ging es am Donnerstagmorgen ersteinmal zur europäischen Strombörse, nun also: Grünau, deutsche Wohnkultur im Wandel. Ein Vorschlag der Sachsen, aber die Niederländer sollen sofort begeistert gewesen sein.

Grünau hofft auf Hippness wie in Berlin

Es gab zwar eine Zeit, in der Klaus Wagner Avantgarde war mit seiner „Drei-Zimmer-Wohnung, 72 Quadratmeter, fernbeheizt“ in der vierten von sechs Etagen. Aber es gab nie eine Zeit, in der nicht wenigstens argwöhnisch über sein Grünau geredet worden ist. Als er 1979 einziehen konnte, hieß es: „Du hast doch bloß Kontakte.“ Wagner wollte, sagt er, „wie tausend andere einen angemessenen, schönen Wohnraum“, und den bekam keiner so ganz einfach in der DDR. Als es die dann nicht mehr gab, fragte man den Lehrer Wagner, was er denn da noch mache in diesem „Arbeiterwohnregal“.

45.000 der einst 85.000 Grünauer zogen nach 1990 aus, unter ihnen „der Richter, der Arzt und die Olympiasiegerin im Rudern“ aus dem Haus von Klaus Wagner. Und heute, na ja: Hoffen sie in Grünau auf die Hippness eines Berlin-Marzahn oder Hellersdorf. Tatsächlich ziehen wieder Menschen nach Grünau, aber noch sind die Mieten auch anderswo in Leipzig nicht so hoch wie in der Hauptstadt.

Gespräch mit König Willem-Alexander

Wagner, 74 Jahre alt, schon immer Leipziger, seit 37 Jahren Grünauer, gehört zu den ausgewählten Menschen aus dem Stadtteil, mit denen Willem-Alexander und Máxima am Donnerstagmorgen im Stadtteilbüro sprechen. An den Fenstern des Flachbaus hing Anfang der Woche noch ein Zettel: „Einbruch zwecklos, wir wurden schon ausgeraubt!!!!!“ Der ist jetzt weg, und am Stehtisch fragt Willem-Alexander: „Wie haben Sie den Wandel verkraftet?“
Er komme zurecht, sagt Klaus Wagner, es sei zwar nicht mehr so, dass sie den Trockenraum im Haus als Clubraum nutzen, aber man sage sich noch „Guten Tag“. Ob er denn in der Platte wohnen bleiben wolle, will der König noch wissen, und Klaus Wagner schlägt sein „Ja“ mit der Faust auf den Tisch.

Gute Geschichten, aber auch viel Gewalt

In Grünau haben es viele für ein Gerücht gehalten, dass das Königspaar kommen soll, dann aber waren sie stolz. Da reisen also diese Niederländer an und wollen sich was abgucken, für die eigenen Hochhaussiedlungen an den Rändern von Rotterdam und Amsterdam. „Wir waren zwar die größte DDR, hatten aber nicht das einzige Großraumwohngebiet“, sagt Klaus Wagner und hat ein paar Ratschläge, was sie im Nachbarland tun könnten: „Auf die soziale Durchmischung achten, Kultur und Freizeit anbieten, um die Jugend kümmern.“

Tatsächlich erzählt man sich in Leipzig über Grünau gute Geschichten, etwa: dass wieder Leute hinziehen. Dass sie hier jetzt mit dem S-Bahn-Anschluss noch besser angebunden sind. Dass Jugendliche aus dem Umkreis von 250 Kilometern den Skatepark in einem ehemaligen Heizhaus besuchen. Trotzdem gehört das Quartier im äußersten Westen der Stadt immer noch zu denen, die häufiger in den Polizeinachrichten vorkommen und die froh sein können, dass niemand eine Kriminalitätsstatistik auf Stadtteilebene herausgibt. „Jeden Tag Gewalt“ steht auf einem Schild, das eine Frau während des königlichen Besuchs hochhält.

Auch Flüchtlinge sind Thema in Grünau

Vergangene Woche erst sorgte ein Zaunbau für Wirbel. Um ein paar Blocks und einen Innenhof, um eine „Wohnscheibe“ also, hatte die Wohnungsgenossenschaft einen Zaun gezogen. „Aus Angst vor Flüchtlingen: Grünau zäunt sich ein“, lautete die Schlagzeile dazu, weil direkt neben der Wohnscheibe bald eine Flüchtlingsunterkunft eröffnen soll. Mieter und Genossenschaft wehrten sich, der Zaun sei schon lange geplant, soll endlich gegen Kellereinbrüche helfen und gegen Durchgangsverkehr im Innenhof. Am eingezäunten Wohnblock, wo viele schon seit Jahrzehnten leben, kleine Gärten angelegt oder wenigstens eine Schaufensterpuppe mit Skibrille auf dem Balkon haben, gibt es dann aber doch solche, die den Zaun auch wegen der Flüchtlinge gut finden.

Da kommt der hohe Besuch aus den Niederlanden gerade recht: Grünau muss sich ein zweites Mal überlegen, was es aus sich machen will. Klaus Wagner will auch dieses Mal dabei sein. Zwar hat er, als im Sommer 2016 in die Wohnung gegenüber „undefinierbar viele Leute“einquartiert worden waren, der neue Eigentümer seines Wohnkomplexes überhaupt nur noch Flüchtlinge einziehen ließ, erstmals nach 1990 wieder darüber nachgedacht, ob er vielleicht aus Grünau wegziehen sollte. Aber das Nachdenken dauerte nur eine Woche. Weil er so viel investiert hat in die Wohnung, weil der Sportverein um die Ecke ist und auch der Ort, an dem er Flüchtlingen lange Deutschunterricht gegeben hat. Und weil der „tock“vor seinem Haus, den Wagner Anfang der Achtziger in den Boden gerammt hatte, inzwischen zu einer Linde aufgeschossen ist.

Denise Peikert

Quelle: F.A.Z. vom 10.02.2017